04.04.08 Freitag, 00.00 h

Ausstellung "Kippfiguren. Robert Gernhardts Brunnenhefte"

„Dieses Gedicht geht auf ein Erlebnis zurück, das ich mir selbst ausgedacht habe." Über 28 Jahre lang, vom Sommer 1978 bis zum 21. Juni 2006 – neun Tage vor seinem Krebstod –, notierte der Schriftsteller Robert Gernhardt seine Gedanken, Einfälle und Erlebnisse in 675 Schulhefte der Marke „Brunnen“. Auf Tausenden von DIN A 5-Seiten finden sich Wortreime und Wortspiele, Wortgemälde, Cartoons und Kritzeleien, die von den ebenso komischen wie traurigen, ironischen wie fantastischen Einfällen des Schriftstellers zeugen. Sie führen Gernhardts Talent als Maler und Schriftsteller, sein Gespür für den poetischen Einfall und seine Liebe zur Sprache vor Augen – ebenso wie seinen ironischen Umgang mit der eigenen Künstlerbiografie. In der Ausstellung wird eine Auswahl von 170 Heften aus dieser so intimen wie unbekannten Werkbiografie zu sehen sein.

49 Vitrinen bringen den Besuchern dieses private Oeuvre des Schriftstellers nahe. Wort und Bild sind nicht voneinander zu trennen: Lesend und schauend können die Besucher in den Heften, die das Deutsche Literaturarchiv Marbach gemeinsam mit Almut Gehebe-Gernhardt ausgewählt hat, die ersten Entwürfe bekannter Gedichte genauso entdecken wie die unbekannten Spuren von Gernhardts unaufhörlichem Versuch, die ästhetisch anrührenden Augenblicke des Lebens festzuhalten und die Logik der Sprache auf den Kopf zu stellen. Im Rundgang vom ersten bis zum letzten Heft, von 1978 bis zu seinem Tod 2006, werden Gernhardts Lebensthemen deutlich: die Suche nach Abglanz und Schatten der Ideen und Ideale; die Kraft, die Zeichen, Buchstaben und Striche haben, wenn sie, sparsam eingesetzt, eine ganze Welt aufs Papier bannen. Immer wieder beschreibt Gernhardt den Literaturbetrieb, berichtet von Lesereisen und Aufenthalten im toskanischen Montaio, widmet sich dem Sport und den Medien, reflektiert die Funktion der Kunst und des Witzes. In seinen Zeichnungen und Skizzen kehren die tote Natur, Tiere und Schatten, die Menschen seiner direkten Umgebung und das eigene Porträt, vor allem aber die eigene Hand, mmer wieder. Die Hefte dokumentieren so ein werkgewordenes Dichterleben und sind zugleich eine subjektive Chronik des bundesrepublikanischen Kulturbetriebs.

Vor allem in seinen letzten vier Lebensjahren versuchte der krebskranke Gernhardt, das Leiden im Leben künstlerisch zu fassen, die Veränderungen des eigenen Körpers zu zeichnen, seine Reflexionen über Zeit und Endlichkeit poetisch zu formulieren. Selbst dort, wo sein Tagebuch intim wird, bleibt der Chronist ganz Künstler: Die schreibende Selbstbefragung wird zur künstlerischen Formel, das Leben in größere, ästhetische Zusammenhänge zu übersetzen. Damit versinnbildlichen die „Brunnen“-Hefte eine zentrale Frage in Gernhardts Leben: Wie kann man Augenblicke des Lebens in Wort oder Bild festhalten, dass sie eine zeitenthobene Gegenwart gewinnen? Bereits im Jahr 1988 hatte Gernhardt in eines der Hefte notiert, „dass die Hefte die eigentliche Summe meiner Existenz darstellen, authentischer als Bilder und Bücher, da sie reine Bewegung sind und kein Ankommen – wohin und worauf immer diese Bewegung gerichtet ist“. Das Er-Schreiben der Welt ist, aus dieser Perspektive, nicht nur ein Versuch, die Welt und sich selbst intensiv wahrzunehmen, sondern auch, sich von ihr zu distanzieren – in der ironischen Brechung, im Reim, in der Sprache.

Robert Gernhardt, der zum letzten Mal am 19. November 2005 zu Gast im Deutschen Literaturarchiv Marbach war, entschied sich wenige Tage vor seinem Tod am 30. Juni 2006, seinen schriftlichen Vorlass nach Marbach zu geben. Die „Brunnen“-Hefte bilden die Vorhut seines Nachlasses, der bis Jahresende 2008 vollständig in Marbach angelangt sein wird.

Die Ausstellung wird vom Marbacher Magazin 120 begleitet: 

Kippfiguren. Robert Gernhardts Brunnen-Hefte. Zwei Brunnen-Hefte von Robert Gernhardt im Faksimile und ein Essay von Kristina Maidt-Zinke. 2007. 146 Seiten, zahlreiche farbige Abb. Broschiert. 12,- Euro. ISBN 978-3-937384-34-4.

Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs Marbach

Mit freundlicher Unterstützung von: Hertie Stiftung, Stiftung Polytechnische Gesellschaft, Stadt Frankfurt, Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen, S. Fischer Verlag, Fazit Stiftung

2008